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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 23.01.2003
Aktenzeichen: 20 W 479/02
Rechtsgebiete: BGB, FGG


Vorschriften:

BGB § 1908 Abs. 1
BGB § 1632 Abs. 1
FGG § 12
FGG § 69 f
FGG § 69 d
1) Vor Erlass einer vom Betreuer beantragten einstweiligen Anordnung auf Herausgabe des betreuten gemäß § 1632 BGB ist die persönliche richterliche Anhörung des Betreuten geboten.

2) Unterbleibt diese persönliche Anhörung zunächst wegen besonderer Eilbedürftigkeit bei Gefahr im Verzug, so ist die vom Vormundschaftsrichter nachzuholen, bevor nach Eingang einer beschwerde über die Abhilfe entschieden und die Sache dem Landgericht als Beschwerdegericht vorgelegt wird. Fehlt es hieran und wird die persönliche Anhörung auch vom Landgericht nicht nachgeholt, so stellt dies einen Verfahrensfehler dar, der auf weitere Beschwerde zur Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen und Zurückverweisung führen kann.


OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN BESCHLUSS

20 W 479/02

In dem Betreuungsverfahren

hat der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die weitere Beschwerde der Beteiligten zu 2) und 3) gegen den Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Gießen vom 21. November 2002 am 23. Januar 2003 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss und der Beschluss des Amtsgerichts Gießen vom 15. November 2002 werden aufgehoben.

Das Verfahren wird zur neuen Prüfung und Entscheidung an das Amtsgericht Gießen zurückverwiesen.

Gründe:

Die zulässige weitere Beschwerde der Beteiligten zu 2) und 3) führt in der Sache zum Erfolg, da die Entscheidung des Landgerichts auf einer Verletzung des Rechts beruht (§§ 27 Abs. 1 FGG, 546 ZPO).

Die angefochtenen Entscheidungen der Vorinstanzen beruhen auf einer Verletzung des durch Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich geschützten Anspruchs auf Gewährung des rechtlichen Gehörs und der gebotenen Sachaufklärung nach § 12 FGG.

Gemäß § 1908 i Abs. 1 BGB ist auf die Betreuung § 1632 Abs. 1 bis 3 BGB entsprechend anzuwenden. Danach kann ein Betreuer, zu dessen Aufgabenkreis - wie hier - die Aufenthaltsbestimmung gehört (vgl. hierzu Bienwald, Betreuungsrecht, 3. Aufl., § 1908 i BGB Rn. 16; HK/Bauer BUR § 1632 BGB Rn. 25; Jürgens/Klüsener, Betreuungsrecht, 2. Aufl., § 1632 BGB Rn. 1; Münch Komm/Schwab, BGB, 4. Aufl., § 1908 i. Rn. 2), die Herausgabe des Betreuten von Dritten verlangen, die ihm den Betreuten widerrechtlich vorenthalten. Über diesbezügliche Streitigkeiten, die die Betreuung betreffen, entscheidet auf Antrag des Betreuers der Richter des für das Betreuungsverfahren zuständigen Vormundschaftsgerichts (§§ 1908 i Abs. 1, 1632 BGB, 65 Abs. 4 FGG, 14 Abs. 1 Nr. 7 RPflG).

Da es für eine Herausgabeanordnung an einer ausdrücklichen Regelung des Verfahrens fehlt, sind die für das Betreuungsverfahren geltenden Vorschriften des FGG und ergänzend dessen allgemeine Regelungen heranzuziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Verfahren nicht lediglich dazu dient, eine vom Betreuer getroffene Entscheidung über die Aufenthaltsbestimmung durchzusetzen, sondern eine an § 1901 BGB orientierte sachliche Prüfung erfordert, ob die Herausgabe dem Wohl und den berücksichtigungsfähigen Wünschen des Betreuten entspricht (vgl. Jürgens/Klüsener, a.a.0., Rn. 3; Bienwald, a.a.0., Rn. 17). So kann ein solcher Herausgabestreit auch Anlass zur Überprüfung der bisher im Betreuungsverfahren getroffenen Entscheidungen und der Führung der Betreuung sein. Eine gerichtliche Herausgabeanordnung, die - unabhängig von der Frage der Geschäftsfähigkeit- dem Willen des Betreuten zuwider läuft, erfordert eine besonders sorgfältige Überprüfung ( vgl. etwa Klüsener/Jürgens, a.a.O., Rn. 3; HK/Bauer BUR, a.a.O., Rn. 26). Da die Entscheidung über ein Herausgabeverlangen des Betreuers für den Betreuten selbst einen schwerwiegenden Eingriff in seine persönlichen Belange darstellt, ist vor einer gerichtlichen Entscheidung in aller Regel seine persönliche richterliche Anhörung geboten (vgl. ebenso Jürgens/Klüsener, a.a.0., Rn. 4; HK/Bauer-BUR, a.a.0., Rn. 11). Dies ist auch im vorliegenden Fall sowohl im Hinblick auf die Bedeutung der Angelegenheit für die Betroffene zur Gewährung des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, als auch zur Sachaufklärung und Vermittlung des erforderlichen unmittelbaren Eindrucks von ihren Wünschen und ihrer gegenwärtigen und durch die Herausgabeentscheidung zu ändernden Lebenssituation geboten.

Dabei ist in dringenden Fällen eine vorläufige Anordnung über die Herausgabe durch das Vormundschaftsgericht möglich, weil die Notwendigkeit vorläufiger Regelungen gerade im Vormundschaftssachen allgemein anerkannt wird und insbesondere die nur für bestimmte Verfahrensgegenstände geltende Regelung des § 69 f FGG keinen Ausschluss vorläufiger Anordnungen für die sonstigen Verfahrensgegenstände des Betreuungsrechtes enthält (vgl. Bienwald, a.a.0., Rn. 21; Jürgens/Klüsener, a.a.0., Rn. 4; Erman/Holzhauer, BGB, 10. Aufl., § 1908 i Rn. 4; Keidel/Kuntze/ Winkler, FGG, 14. Aufl., § 19 Rn. 30). Auch vor einer solchen vorläufigen Regelung ist grundsätzlich die vorherige Anhörung des Betroffenen erforderlich. Nur bei besonderer Eilbedürftigkeit wegen Gefahr im Verzug kann eine einstweilige Anordnung bereits vor der gebotenen Anhörung des Betreuten erlassen werden. In entsprechender Anwendung des § 69 f Abs. 1 Satz 4 FGG und der für das Minderjährigenrecht geltenden §§ 50 a Abs. 3 Satz 2, 50 b Abs. 3 Satz 2 FGG ist die Anhörung dann aber unverzüglich nachzuholen. Ein Verzicht auf die Anhörung kommt in entsprechender Anwendung der §§ 69 f Abs. 1 Satz 3, 69 d Abs. 1 Satz 4 FGG nur unter den hier nicht gegebenen besonderen Voraussetzungen in Betracht, dass von der Anhörung erhebliche gesundheitliche Nachteile für den Betreuten zu befürchten sind oder dieser offensichtlich zu einer eigenen Willensbekundung nicht in der Lage ist.

Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht seine vorläufige Anordnung vom 15. November 2002 ohne vorherige Anhörung der Betroffenen und der Beteiligten zu 2) und 3) als Antragsgegner erlassen, dies mit Gefahr im Verzug begründet und die Nachholung in Aussicht gestellt. Des weiteren hat es mit Beschluss vom 18. November 2002 "Termin zur Anhörung der Parteien" auf den 03. Dezember 2002 bestimmt, wobei im Rubrum des Beschlusses lediglich die Beteiligten zu 1) bis 3) aufgeführt sind und auch nur diesen Personen, nicht aber der Betroffenen, der Beschluss zugestellt wurde. Dies deutet darauf hin, dass eine Anhörung der Betroffenen selbst weder vor Erlass der vorläufigen Anordnung, noch im Wege der Nachholung beabsichtigt war. Des weiteren wurde trotz Annahme einer besonderen Eilbedürftigkeit der Termin zur Anhörung der übrigen Verfahrensbeteiligten erst auf einen mehr als zwei Wochen nach dem Erlass der einstweiligen Anordnung liegenden Zeitpunkt festgesetzt, sodann aber wegen Versendung der Akten an das Beschwerdegericht nicht mehr durchgeführt.

Dieses Verfahren ist rechtsfehlerhaft. Die Vormundschaftsrichterin war verpflichtet, nach Eingang der Beschwerde der Beteiligten zu 2) und 3) und vor ihrer mit Beschluss vom 19. November 2002 getroffenen Nichtabhilfeentscheidung die zunächst unterlassene persönliche Anhörung der Betroffenen durchzuführen (so für das vergleichbare Verfahren für Minderjährige OLG Naumburg, FamRZ 2002,615; OLG Karlsruhe OLG Report 1998, 52; OLG Zweibrücken FamRZ 1982, 945). Hiervon konnte sie auch der Umstand nicht entbinden, dass die Bet. zu 2) sich mit der Betroffenen nach Angaben des Bet. zu1) zunächst nicht in ihrer Wohnung in München aufhielt, da jedenfalls eine postalische Erreichbarkeit bestand, die Verweigerung oder Vereitelung einer gerichtlich angeordneten persönlichen Anhörung der Betroffenen nicht ohne weiteres unterstellt und deren Durchführung gegebenenfalls zwangsweise hätte durchgesetzt werden können. Eine Heilung dieses Verfahrensfehlers ist auch im Beschwerdeverfahren durch das Landgericht nicht erfolgt (vgl. hierzu OLG Düsseldorf FamRZ 1994, 1541; OLG Frankfurt am Main, FRES 2, 343), da die Kammer sachlich über die Beschwerde entschieden hat, ohne zuvor die bis dahin unterbliebene persönliche Anhörung der Betroffenen nachzuholen. Da die Entscheidungen der Vorinstanzen auf diesem Rechtsfehler beruhen, waren sie durch den Senat als Rechtsbeschwerdegericht aufzuheben.

Das Verfahren war zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass für eine erneute vorläufige Regelung wegen Gefahr im Verzug ohne vorherige persönliche Anhörung der Betroffenen kein Raum mehr sein dürfte. Nachdem die Betroffene sich seit über 2 Monaten bei ihrer Tochter in München befindet, ohne dass konkrete Anhaltspunkte für eine Realisierung der nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Aufenthaltsänderung zu befürchtenden Dekompensation zutage getreten sind, fehlt es hierfür an der erforderlichen besonderen Dringlichkeit.

Damit wird das Amtsgericht über das Herausgabeverlangen nach Durchführung der gebotenen persönlichen Anhörung der Betroffenen erneut zu befinden haben. Hierbei wird auch zu berücksichtigen und aufzuklären sein, wie sich ein erneuter Aufenthaltswechsel auf den Zustand der Betroffenen auswirken wird. Des weiteren gibt die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. Schmal vom 6. Dezember 2002 ( Bl. 569/570 d. A. ) Anlass, die erforderlichen Feststellungen über den derzeitigen gesundheitlichen Zustand der Betroffenen an ihrem jetzigen Aufenthaltsort, ihre Wünsche und die Realisierbarkeit der von dem Sachverständigen nunmehr für möglich gehaltenen dauerhaften Versorgung im Haushalt ihrer Tochter zu treffen. Ob danach erneut eine einstweilige Regelung in Frage kommt, oder sogleich in der Hauptsache entschieden werden kann, wird das Amtsgericht in seine Entscheidung mit einzubeziehen haben.

Ende der Entscheidung

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